HUMAN vereint Chorwerke und Arrangements, die zwischen Abgrund und Hoffnung oszillieren. Die Kompositionen sind eindringliche Zeugnisse der Auseinandersetzung mit Krieg, Angst und Widerstand – vom bedrohlichen und namenlosen Schrecken über die verzagten Stimmen junger Menschen im Angesicht ihres Todes bis hin zur monumentalen Hymne auf die Freiheit. Ihnen gegenüber stehen Chansons und Schlager der 1910er bis 1940er Jahre – mal heiter, mal melancholisch – musikalische Fluchten aus düsterer Realität.
Jaakoo Mäntyjärvi: Alarum Bells (2011)
Text: Edgar Allen Poe „The bells“ (1849)
Jaakko Mäntyjärvi vertont in „Alarum Bells“ das dritte Gedicht aus Edgar Allan Poes Zyklus „The Bells“, die Alarmglocken. Er schafft ein eindringliches Klangbild wachsender Alarmierung, das, ohne eine konkrete Geschichte auszubreiten, zwischen Sängern und Zuhörern ein Gefühl zunehmender Dringlichkeit erzeugt. Die Stimmen fungieren dabei als dynamisches Feld aus metallischen Resonanzen. Kurze, gespannte Motive geraten in Bewegung, überlagern sich und treiben den musikalischen Verlauf voran – als nähere sich eine unsichtbare Bedrohung.
Im Zentrum stehen die Glocken in den Mittelstimmen, die über das ganze Stück hinweg denselben Text und Rhythmus wiederholen. Doch die Silbenverteilung variiert ständig, sodass die Wiederholung keine Ruhe oder Stabilität vermittelt. Die Außenstimmen tragen über sieben Minuten einen fortwährenden Alarm in unterschiedlichen Phasen: Vom ersten Ruf steigt die Alarmierung bis zur höchsten Stufe, ebbt zeitweise ab, um sich erneut zu steigern – als würden immer wieder neue Schrecken sichtbar. Dabei ist der Fokus nie der Grund des Alarms, Poe und Mäntyjärvi konzentrieren sich einzig auf die Alarmstimmung, versinnbildlicht durch die titelgebenden Glocken.
Hear the loud alarum bells – Brazen bells!
What tale of terror, now, their turbulency tells!
In the startled ear of night
How they scream out their affright!
Too much horrified to speak,
They can only shriek, shriek,
Out of tune,
In a clamorous appealing to the mercy of the fire,
In a mad expostulation with the deaf and frantic fire,
Leaping higher, higher, higher,
With a desperate desire,
And a resolute endeavor
Now – now to sit or never,
By the side of the pale-faced moon.
Oh, the bells, bells, bells!
What a tale their terror tells
Of Despair!
How they clang, and clash, and roar!
What a horror they outpour
On the bosom of the palpitating air!
Yet the ear, it fully knows,
By the twanging,
And the clanging,
How the danger ebbs and flows;
Yet, the ear distinctly tells,
In the jangling,
And the wrangling,
How the danger sinks and swells,
By the sinking or the swelling in the anger of the bells,
In the clamour and the clangour of the bells!
Thomas Jennefelt: Gesänge am ersten Abend des Krieges (2003)
Nr. 2 Wiegenlied
Thomas Jennefelts „Gesänge am ersten Abend des Krieges“ verzichten ganz auf Text und setzen Ängste und Vorahnungen direkt in Klang um. Das „Wiegenlied“ ist überschrieben mit der Bezeichnung „kaum hörbar“. Auf dem Vokal u bricht sich die Trauer über das Schreckliche Bahn und hinterlässt ein Gefühl der Beklemmung.
Hans Leip: Lili Marleen (1915)
Mezzosopran: Simone Brückner
Auf einem abgerissenen Notizblock-Zettel schrieb der Schriftsteller und Dichter Hans Leip die ersten drei Strophen des Textes – zusammen mit einer danach weitgehend in Vergessenheit geratenen Melodie. Das alles geschah im Ersten Weltkrieg in der Nacht vom 3. (Karsamstag) auf den 4. April (Ostersonntag) während einer Wache vor der Kaserne. Unmittelbar danach fuhr Leip an die russische Front.
1937 entstand zu diesem Text ein Chanson mit einer Melodie des Hindemith-Schülers Rudolf Zink. 1939 vertonte auch der Komponist Norbert Schultze das Lied. Er schrieb eine neue Melodie, die bis heute weltbekannt ist, und nahm diese Version mit der Sängerin Lale Andersen auf. Im darauffolgenden zweiten Weltkrieg spielte der Soldatensender „Belgrad“ diese Aufnahme täglich, erreichte damit ein Massenpublikum auf beiden Seiten der Front und verhalf „Lili Marleen“ zum Durchbruch. Das Lied wurde weitreichend zu einer Art „Schicksalslied“ des Zweiten Weltkriegs.
Vor der Kaserne vor dem großen Tor
Stand eine Laterne, und steht sie noch davor,
So woll’n wir uns da wiederseh’n,
Bei der Laterne woll’n wir steh’n
Wie einst Lili Marleen, Lili Marleen.
Uns’re beiden Schatten sah’n wie einer aus.
Dass wir uns so lieb hatten, das sah man gleich daraus.
Und alle Leute soll’n seh’n,
Wenn wir bei der Laterne steh’n,
Wie einst Lili Marleen, Lili Marleen.
Schon rief der Posten: Sie blasen Zapfenstreich,
Es kann drei Tage kosten! Kam’rad, ich komm‘ ja gleich.
So sagten wir auf Wiederseh’n.
Wie gerne wollt ich mit Dir geh’n,
Mit Dir, Lili Marleen, Lili Marleen.
Yui Katada: Shishi no Uta (2012)
Nr. 2–5
„Der Begriff ,Shishi‘ bezeichnet Menschen, die während des chaotischen Endes der Edo-Zeit ihr Leben riskierten, um das zu verfolgen, was sie für das Richtige hielten.“ (Yui Katada)
In „Shishi no Uta“ vertont die japanische Chor-Komponistin Yui Katada Texte junger Menschen, die kurz davor sind, für ihre politischen Ideale zu sterben. Die Gedichte wurden am Ende der Edo-Zeit (1603–1868) verfasst, einem zentralen Wendepunkt der japanischen Geschichte und Gesellschaft. Und doch vermitteln sie eine existenzielle Erfahrung, die kulturelle Grenzen überschreitet.
2. Text: Mochzuki Kameyata (1838–1864)
Der Herbst geht vorüber, und auch wenn ihr später kommt, fallt und strahlt, ihr roten Ahornblätter!
3. Text: Kusaka Genzui (1840–1864)
Auch unzählige Kostbarkeiten sind kein Schatz, der Reichtum eines Landes sind seine Bürger.
4. Text: Takechi Hanpeita (1829–1865)
Wenn Kirschblüten blühen, bleiben ihre Farbe und ihr Durft auch dann erhalten, nachdem sie herabgefallen sind. Doch elend der, der als Knospe endet.
5. Text: Yoshida Shōin (1830–1859)
Ich tue, was getan werden muss, wenn der Moment da ist. Warum soll ich nach Erfolg oder Scheitern fragen?
Edith Piaf: La Foule (1946)
Akkordeon Solo
Werner Richard Heymann: Bein ist Trumpf (1921/23)
Text: Sigismund von Radecki, Hans Janowitz
Sopran: Jella Mährle, Carmen Fiedler-Stahl, Bariton: Georg Jöchle
Zuckt und klopft im Takt der Schieber durchs Lokal,
alle Mädels packt das Fieber auf einmal,
wer noch irgendwie ein Bein sein eigen nennt,
tritt damit das Feuer aus, das in ihm brennt.
Wozu die vertrackten Glieder einmal sind,
lernt hier sehr geschwinde jedes kleine Kind.
Selbst die alten Tanten wackeln wie noch nie,
denn durch alle Knochen knackt die Melodie.
Eins und zwei Röckchen fliege,
tanz dich frei von der Lüge.
Drei und vier jetzt gesprungen,
ab dafür, ’s ist gelungen.
Step zurück wieder vor,
tanz ins Glück, sei kein Tor.
Seidenstrumpf, seid nicht stumpf,
lernt nur tanzen, Bein ist Trumpf!
Ja, das Bein ist hier allein auf sich gestellt,
und noch steht auf diesem Bein die ganze Welt.
Und mit abertausend Teufeln vollgepackt
dreht die ganze Welt sich um sich selbst im Takt.
Deine Nasenflügel beben vor Musik,
unermesslich ist dein blauer Augenblick.
Ja, in allen Gliedern bist du ein Genie,
doch besonders von der Hüfte bis zum Knie.
(Refrain)
Siebzehn Kilometer gehen wie geschmiert,
wenn der Jazz vier jungen Beinen nur souffliert,
wer dabei steht, hält uns alle für verrückt.
S ist ja nur der Klappertakt, der uns entzückt.
Klappert uns im Takt entgegen auch der Tod,
steckt ihm Blumen in die Augen blutigrot.
Schmiert und ölt ihm schleunigst die Gelenke ein,
und der alte Knabe wird noch brauchbar sein.
(Refrain)
Erik Satie: Trois Mélodies (1886)
Nr. 2 Élégie
Text: J. P. Contamine de Latour
Tenor: Paul Sabel
Ich sah wie einen Traum entschwinden,
Grausame Lüge,
All mein Glück.
Anstelle süßer Hoffnung
Habe ich Leiden
Und Schmerz.
Einst sang meine törichte Jugend
Unaufhörlich
Die Hymne der Liebe.
Doch die liebkoste Chimäre
Ist entschwunden
An einem einzigen Tag.
Ich musste mein langes Martyrium erdulden,
Ohne es zu verfluchen,
Ohne zu seufzen.
Das einzige Heilmittel auf Erden
Für mein Elend
Ist zu weinen.
Francis Poulenc: Figure Humaine (1943)
Nr. 1–6 & 8
Text: Paul Éluard (1942)
1. De tous les printemps du monde
Von allen Frühlingen der Welt
Ist dieser der hässlichste
Von allen Arten meines Seins
Ist die zuversichtliche die beste
Das Gras trägt den Schnee
Wie einen Grabstein
Ich, ich schlafe im Sturm
Und wache mit klarem Blick auf
Die schläfrige, die kleinliche Zeit endet dort
Wo alle Wege vorbeiführen
An meinen innersten Winkeln
Auf dass ich jemandem begegne
Ich höre die Stimmen der Monster nicht
Ich kenne sie, sie haben nichts mehr zu sagen
Ich sehe nur die schönen Gesichter
Die guten zuversichtlichen Gesichter
Zuversichtlich, dass sie ihre Herren bald verderben werden.
2. En chantant les servantes s’élancent
Singend stürzen die Dienerinnen vor
Den Ort aufzufrischen, wo man
Die kleinen gepuderten Mädchen ermordete, flüchtig hingekniet
Ihre an den Kellerfenstern der Frische festgeklammerten Hände
Sind blau wie eine Erfahrung
Ein großartiger, ein fröhlicher Morgen
Stellt euch den Händen der Toten
Stellt euch ihren flüssigen Augen
Es ist das Kleid der Eintagsfliege
Das letzte Kleid des Lebens
Die Steine rollen herab, versinken in den unermesslichen wesentlichen Wassern
Das letzte Kleid der Stunden
Kaum eine rührende Erinnerung
An den versiegten Brunnen der Tugend
Gestört von langer Abwesenheit
Und man gibt sich dem sehr zarten Fleisch hin
Dem Wunder der Schwäche.
3. Aussi bas que le silence
So leise wie das Schweigen
Eines Toten ins Erdreich gepflanzt
Nichts als Dunkelheit im Kopf
So einsilbig und taub
Wie der Herbst im stillen Teich
Bedeckt mit stumpfer Schande
Das Gift seiner Blüte und
Seiner goldenen Bestien beraubt
Spuckt seine Nacht auf die Menschheit.
4. Toi ma patiente, ma patience, ma parente
Du meine Geduldige, meine Geduld, meine Schwester
Hochgeschnürte Brust, Orgel der schleichenden Nacht
Huldigung, alle Himmel in ihrer Anmut verbergend
Bereite der Rache ein Bett für meine Geburt.
5. Riant du ciel et des planètes
Den Himmel und die Planeten verlachend
Den Mund getränkt mit Selbstvertrauen
Verlangen die Weisen Söhne
Und Söhne von deren Söhnen
Bis zur Erschöpfung
Die Zeit wiegt nur die Narren
Nur der Abgrund erblüht
Und die Weisen fallen der Lächerlichkeit anheim.
6. Le jour m’étonne et la nuit me fait peur
Der Tag erstaunt mich und die Nacht erschreckt mich
Der Sommer erfüllt mich mit Furcht und der Winter verfolgt mich
Ein Tier auf dem Schnee setzte
Seine Pfoten in den Sand oder den Schlamm
Seine Pfoten kamen von weiter her als meine Schritte
Auf dem Weg, auf dem der Tod
Die Spuren des Lebens hinterlässt.
8. Liberté
Auf meine Schulbücher
Auf mein Pult und auf die Bäume
Auf den Sand und den Schnee
Schreibe ich deinen Namen
Auf alle gelesenen Seiten
Auf alle weißen Seiten
Fels Blut Papier oder Asche
Schreibe ich deinen Namen
Auf die goldenen Bildnisse
Auf die Waffen der Krieger
Auf die Krone der Könige
Schreibe ich deinen Namen
Auf den Urwald und die Wüste
Auf die Nester und den Ginster
Auf das Echo meiner Kindheit
Schreibe ich deinen Namen
Auf die Geheimnisse der Nacht
Auf das tägliche Brot
Auf die verlobten Gezeiten
Schreibe ich deinen Namen
Auf alle meine blauen Tücher
Auf den Teich die Sonne den Schimmel
Auf den See den lebendigen Mond
Schreibe ich deinen Namen
Auf die Felder den Horizont
Auf die Schwingen der Vögel
Und auf die Schattenmühle
Schreibe ich deinen Namen
Auf jeden Hauch Morgenrot
Auf das Meer und die Schiffe
Auf das wilde Gebirge
Schreibe ich deinen Namen
Auf die Wolkengischt
Auf den Schweiß der Gewitter
Auf den dichten und seichten Regen
Schreibe ich deinen Namen
Auf die glitzernden Formen
Auf die Farbglocken
Auf die fassbare Wahrheit
Schreibe ich deinen Namen
Auf die erwachten Wege
Auf die ausgebreiteten Straßen
Auf die überquellenden Plätze
Schreibe ich deinen Namen
Auf die aufleuchtende Lampe
Auf die erlöschende Lampe
Auf meine befriedeten Häuser
Schreibe ich deinen Namen
Auf die entzweigeschnittene Frucht
Des Spiegels und meines Zimmers
Auf mein Bett die leere Schale
Schreibe ich deinen Namen
Auf meinen verfressenen, zärtlichen Hund
Auf seine gespitzten Ohren
Auf seine ungeschickte Pfote
Schreibe ich deinen Namen
Auf die Schwelle meiner Türe
Auf die vertrauten Gegenstände
Auf die Flut des gesegneten Feuers
Schreibe ich deinen Namen
Auf alles vereinte Fleisch
Auf die Stirne meiner Freunde
Auf jede hingestreckte Hand
Schreibe ich deinen Namen
Auf das Glas der Überraschung
Auf die erwartenden Lippen
Jenseits des Schweigens
Schreibe ich deinen Namen
Auf meine zerstörte Zuversicht
Auf meine eingestürzten Leuchttürme
Auf die Mauern meines Überdrusses
Schreibe ich deinen Namen
Auf die Abwesenheit ohne Verlangen
Auf die nackte Einsamkeit
Auf die Schritte des Todes
Schreibe ich deinen Namen
Auf die wiedererlangte Gesundheit
Auf die verblichene Gefahr
Auf die Hoffnung ohne Erinnerung
Schreibe ich deinen Namen
Und durch die Macht eines Wortes
Fange ich mein Leben neu an
Und bin geboren um dich zu kennen
Dich beim Namen zu nennen
Freiheit.
Leitung und Konzept: Kerstin Behnke
Akkordeon: Ingmar Rosenthal
Programmtexte: Lisa Böffgen und Hanna Schwenkglenks
Besetzung
Sopran: Charlotte Deppe, Carmen Fiedler-Stahl, Sarah Goeth, Miriam Hampe, Steffi Hiltl, Sarah Höppner, Allison Jones, Dorothee Jäger, Sophia Kerscher, Viola Matthias, Jella Mährle, Mira Sabel, Hanka Theisinger-Hartnack, Antonia Vogelmann
Alt: Simone Brückner, Lisa Böffgen, Corinna Fendt, Heidrun Lipp, Christa Pashalides, Susanne Paula, Hanna Schwenkglenks
Tenor: Daniel Benker, Rainer Brückner, Christoph Ciesla, Johannes Elle, Martin Ha Minh, Marc Henneberger, Paul Sabel, Bernd Schweikert
Bass: Lennart Ackermans, Clemens Friedrich, Petrik Grund, Holger Haushahn, Georg Jöchle, Heiko Kunz, Christian Maugg, Christoph Nebas, Sebastian Schüle, Frank Winkler

